Ostzonenprogrammierung

Einträge aus dem gefälschten Tagebuch eines Zonenprogrammierers um Weihnachten '88


Ralf Lämmel, 17.12.2013, Redevorlage für eine tierisch ernste Weihnachtsfeier


Vorwort


Derartige Text generieren mitunter gehässige Leserkommentare, welche dann hinterfragen, wie es sein kann, dass Beamte dieses Landes ihre Zeit auf solchen Quatsch verwenden. Deswegen soll hier ich pro forma betonen, dass ich diesen Unsinn zwischen den unbezahlten Überstunden an einem Wochenende durch grobe Vernachlässigung etwaig empfohlener Schlafmengen erstellt habe. Auch möchte ich erwähnen, dass ich als geborener Ostzonenprogrammierer ja nur durch geschichtliche Verwicklungen in diesem System gelandet bin, dessen Überlegenheit ich aber allein schon an der Menge und der Qualität der verfügbaren Bananen ablesen kann.


Wir versetzen uns zurück in das Jahr 1988, also dem Jahr vor 1989, also dem Jahr vor dem Jahr, in dem die Mauer viel -- wie man so sagt. Eigentlich ist die Mauer ja erst viel später vollständig weggetragen worden und bis dahin standen durchaus noch diverse Mauerteile; sie lagen also nicht rum bzw. sie waren nicht schlagartig umgefallen; auch waren sie nicht alle umgefallen worden. So einfach lies sich diese Mauer nicht fällen bzw. umwerfen.


Es ist Weihnachten 1988.


Ein gewisser Gefreiter der Reserve, Ralf Lämmel, geboren in Korl-Morx-Stodt (der Stadt mit den drei “Os”), aufgewachsen in Rostock, militarisiert in Stahnsdorf bei Potsdam, zum Studium der Informatik nach Rostock zurückgekehrt, befindet sich im ersten Semester. Er hat aus unerfindlichen Gründen unlängst und angeblich begonnen, ein Tagebuch zu führen. Hierzu sei erwähnt, dass es zwar keinen Strom und keine Bananen in der Zone gab, aber Papier und Bleistifte waren rationiert verfügbar für politisch konforme Staatsbürger. Im folgenden erlangen wir empirischen Einblicke in die ostzonale Programmiererpsyche durch die Betrachtung ausgewählter Tagebucheinträge um eben Weihnachten 1988 herum.


Tagebucheinträge


Sonntag, 18.12.1988



Der Meli-Club gestern war einfach cool. Meine Freundin schaute gut aus. Auch habe ich ein neues Getränk entdeckt -- so ein Wermut, der sich Gotano schimpft. Damit entsage ich “Dozentenblut” und “Bretterknaller”. Es ist so schade, dass ich nicht auch donnerstags im Meli-Club sein kein, aber die Vorlesung “Dialektischer Historischer Materialismus” beginnt schon 7:15 Uhr am Freitag. Es gibt wohl eine Hausarbeitsoption für das Fach. Damit könnte ich donnerstags auch in den Meli-Club gehen -- so wie es für meine Freundin und die anderen Grundschulpädagoginnen kein Problem ist.


In dem synaptisch erweiterten Zustand des Gotanogenusses beschlossen XYZ (Name geschwärzt) und ich, eine Forschungsidee im Kontext natürlicher Sprachverarbeitung zu entwickeln. Dazu dachten wir zunächst tiefgründig über den gerade hörbaren Text von Marianne Rosenberg’s "Er gehört zu mir" nach, welcher zu einem Meli-Club-Abend so gehört wie der Name an der Tür.


Erste Strophe von Marianne Rosenberg’s “Er gehört zu mir”:


Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür,
und ich weiß, er bleibt hier,
nie vergeß ich unseren ersten Tag,
Naaa naa naa na, na na na
denn ich fühlte gleich, daß er mich mag,
Naaa naa naa na, na na na
ist es wahre Liebe (uuuhhhuuuhhuuu)
die nie mehr vergeht (uhuuuhuu)
oder wird die Liebe, vom Winde verweht?


Wir definierten folgende Forschungsfragen, welche durch eine Analyse mittels natürlicher Sprachverarbeitung bzw. Corpusstudien auch unter Einbezug sozialistischen Liedgutes zu adressieren wären. Auf jeden Fall würde Prolog in diesem Projekt zum Einsatz kommen.


Forschungsfragen:


  1. Gibt es charakteristische Elemente in diesem Text, welche dieses Lied als eine Ausgeburt des Klassenfeindes entlarven? Ist dies vielmehr ein unentscheidbares Problem bzw. ein Problem, was nur durch die sogenannte "starke Artificial Intelligence" gelöst werden kann?
  2. Welche subliminalen Elemente führen zu der mysteriösen Massenpsychose in dem sozialistisch geprägten Studentenclub so dass sich politisch gebildete Studierende und andere sozialistische Persönlichkeiten diesem imperialistischen Gedankengut zuwenden?
  3. Ist Marianne Rosenberg eventuell dann doch verkappt revolutionär?
  4. Liefert der Text einen Beleg für die imperialistisch etablierte Verhaustierung von Mãnnern?


Ultimativ führte das Lied uns gegen Ende des Abends, also am frühen Morgen, zu allgemeinen Reflektionen über unser beginnendes Informatikstudium und das Leben an sich:


Weitere Fragen:


  1. Warum müssen wir in Pascal und C programmieren? Diese Sprachen sind doch ganz offensichtlich ungeeignet, um einen klaren Gedanken zu fassen? Kann die sozialistische Gesellschaft auf Dauer erfolgreich sein, wenn sie solche degenerierten (imperativen also imperialistischen) Sprachen favorisiert?
  2. Wie erklären wir unseren Freundinnen, was wir denken? Gibt es notfalls auch hinreichend gut aussehende Informatik-Studentinnen und hinreichend viele dergleichen? (Später zugefügte Anmerkung auf dem Rand des Tagebuches: Weitere empirische Untersuchungen suggerieren, dass Mathematikerinnen auch in den Suchraum aufgenommen werden sollten.)


Im Nachhall dieser Überlegungen habe ich gerade einen Brief an die Kreisleitung der SED gesendet, um die politische Integrität unserer Professoren überprüfen zu lassen hinsichtlich der systemfeindlichen Auswahl von Programmiersprachen im Curriculum.


Freitag, 23.12.1988



Ich wurde mit dem Weihnachtsgroßeinkauf beauftragt. Die Ente hat meine Mutter schon ergattert so dass nur noch Grundnahrungsmittel zu besorgen waren. Hier ist der Kassenzettel:


  • 100 Brötchen zu je 0,05 Mark, insgesamt 5,00 Mark
  • 7 Leckermäulchen zu je 1,00 Mark, insgesamt 7,00 Mark
  • 1kg Kaffee = 8 Packungen zu je 8,75 Mark, insgesamt 70 Mark
  • 10 Flaschen Club-Cola zu je 0,42 Mark, insgesamt 4,20 Mark
  • 1 Schlager-Süßtafel zu 0,80 Mark
  • usw.


(Siehe weitere Preisbeispiele aus der DDR.)


Kaum bin ich zuhause, sehen wir unter auf der Strasse jemand mit Orangen. Ich mache mich dementsprechend wieder auf den Weg in die Kaufhalle. Solche Schnelligkeit zahlt sich aus. Man hat mir dann 1kg Orangen verkauft; mehr gab es nicht pro Person.


Schliesslich durfte ich noch in das Kaufhaus eilen, um ein paar Jahresendflügelfiguren als Schmuck für den Endjahresbaum zu kaufen sowie ein paar Endjahrespuppen ohne Flügel aber mit Mütze und Bart und aus Schokolade -- also zum Verzehr bestimmt.


Montag, 26.12.1988



Das ist ein ganz besonders schrecklicher Montag: Rechenzentrum geschlossen, Freundin bei den Eltern, Alternativen nicht zugreifbar bei geschlossenem Meli-Club, polnische Flugente zu trocken, Orangen ungeniessbar. 

Die Kuba-Orangen sahen lecker grün aus in der Kaufhalle, aber die Drängelei, das Anstehen und das viele Geld waren es nicht wert; die Orangen sind voll mit Kernen und total sauer. Vielleicht ist etwas dran an dem Gerücht, dass die Kuba-Orangen Fidel Castro's Rache sind.


Auch politisch fühle mich ein wenig alleingelassen. Wie war es doch noch schön, als wir bei der Fahne im Verband der Kompanieeinheit ab und an den “Roten Montag” hatten, der uns für das Vaterland mobilisierte. In dieser Situation der totalen Trostlosigkeit verliere ich mich versehentlich beim Westfernsehen. Das ist aber voller Lügen. Die lassen es so ausschauen, als wenn es dort leckere Orangen und Bananen gibt. Die Wahrheit sieht anders aus, wie wir es aus der NVA-Bibel "Vom Sinn des Soldatseins" wissen (Seite 35 in der mir vorliegenden Version):


“Den Lebensinteressen der Völker entgegen steht die Herrschaft des Imperialismus. Auf sein Konto kommen [...] Armut, chronische Unterernährung und hohe Kindersterblichkeit. Die Geschichte hat ihr Urteil über diese historisch überlebte und dem Untergang geweihte Gesellschaftsordnung längst gesprochen.”


Das zeigt doch ganz deutlich, dass es dort keine Orangen, keine Bananen oder sonstige vitaminreiche Kost geben kann. Ich danke Marx und Lenin, dass sie uns eine Alternative gebacken haben. Bei uns gibt immer leckere Äpfel und Möhren. Der Sozialismus hat den Skorbut besiegt.


Freitag, 30.12.1988



Es ist schon eine eindrucksvolle Koinzidenz, dass die aktuelle Hausaufgabe in der “Einführung in die Programmierung” die Warteschlange thematisiert, während Silvester vor der Tür steht und damit das alljährliche Ritual des Knallererwebs ansteht. Am Mittwoch habe ich mich ordentlich gegen 23 Uhr an die Warteschlage angehängt. Das war zu spät! Das Kontingent an Knallern war 42 Minuten nach Ladenöffnung, also um genau 9:42 Uhr erschöpft. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich die Ladentür nur nicht einmal sehen.


Allerdings war die Zeit in der Schlange nicht ganz vergebens. Ein Thema in meinem Schlangensegment war die prekäre Wohnungsfrage. Es scheint immer noch geltende Praxis zu sein, dass man entweder bis etwa zum Alter von 30 Jahren bei Muttern leben soll oder man heiraten und ein Kind kriegen soll, um eine Wohnung zu bekommen.


Allerdings scheint das bald besser zu werden. Ein netter Parteifreund konnte mit einem Zitat aus Erich Honecker’s Autobiographie “Aus meinem Leben”  aufwarten (Seite 304 in der mir vorliegenden Version):


“Unser Zentralkommitee beschloß im Oktober 1973 ein Wohnungsbauprogramm, um bis 1990 in der DDR die Wohnungsfrage als soziales Problem zu lösen.”

Sobald meine Freundin wieder vor Ort ist, werde ich ihr mein Aktvitätsdiagramm zur Lösung unserer persönlichen Wohnungsfrage demonstrieren. Das Diagramm enthält ein Fork/Join zur Maximierung der Optionen zum Erhalt einer Wohnung. In einem der parallelen Abläufe vertrauen wir auf Erich's Versprechen und hätten damit spätestens am 31.12.1990 eine Wohnung ohne weiteren physischen Aufwand. Parallel könnten wir aufgrund gesunden Misstrauens auch ein Kind in die Welt setzen und damit eventuell schon im Herbst 1989 eine Wohnung zugewiesen bekommen. Das Diagramm ist in Prolog ausführbar. 

Es bleibt zu hoffen, dass die Betonklötze von Professoren nicht doch wieder ihr C-ähnlichen Gebrechen zur Lösung derartiger Probleme pushen. Nicht alle Professoren sind aber so reaktionär. Prof. XYZ  (Name geschwärzt) hat unlängst von der Sprache Hope erzählt und ich habe noch nie soviel Hoffnung verspürt. Die funktionale Programmiersprache Hope kann Funktionen höherer Ordnung gut ausdrücken, Fallunterscheidungen über Datenmustern beschreiben und sie ist stark getypt. Ich werde meine Westverwandten antickern, mir mehr Informationen dazu zu besorgen. Hope soll bald zu mir gehören, wie die Türklinke zur Tür.


Nachwort



Wer etwas Ernsthaftes über die Geschichte der Informatik in der DDR lesen möchte, dem sei der Artikel Integration der Informatik-Standorte der DDR in den Fakultätentag empfohlen.

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